Buchrezension
Dass ich gerne Schweizer Bücher, insbesondere Krimis, lese, mag niemanden erstaunen. Wenn man die Orte kennt, an denen Leichen entdeckt werden, finde ich es einfach noch einen Tick spannender als wenn nicht.
Von Roger Graf wusste ich nur, dass er in einem anderen Leben Kult gewordene Radiohörspiele um den schrägen Privatdetektiv Philip Maloney geschrieben und gelesen hat – und es offenbar noch immer tut (hier zum Beispiel). Zugegeben, diese haben mich nie wirklich vom Hocker gerissen. So beging ich den Fehler, Roger Graf als Autor auf meiner Liste „abzuhaken“. Als nun aber im mir bekannten Vidal Verlag in Winterthur Der schöne Tod erschien, war ich neugierig. Ich gestehe, es war vor allem der Titel, der mich zum Lesen verführte. Außerdem hat ja jeder, auch Autorinnen und Autoren, das Recht auf eine zweite Chance.
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Ja, ich bin froh, dass ich das Buch gelesen habe. Obwohl es bereits der vierte Teil der Stauffer-Serie war, konnte ich problemlos einsteigen. Bald lebten die Figuren vor meinen Augen, und ihr Verhalten war mir schnell vertraut. Schweizerinnen und Schweizern eben – in ihrer ganzen Bunt- und Verschrobenheit. Vielfältig, fühlbar, nachvollziehbar.
Grafs große Stärke ist definitiv das Plotten. Er hat seine vierte Stauffer-Geschichte um einen Leichenfund im Wald aufgebaut, der wegen der ungewöhnlichen Stellung – die Leiche lehnt an einem Baum – viele Fragen aufwirft. Das Team um Damian Stauffer sucht in einer nachvollziehbaren, zeitweise fast schmerzhaften-mühseligen Ermittlungsarbeit nach dem Täter oder der Täterin. Die Ermittelnden machen Umwege, verrennen sich und sind einfach so verdammt menschlich. Ein klassischer Whodunit also, der auf den letzten Seite mit einer überraschenden Wende aufwartet. Klassisch ist doch auch immer wieder gut. Doch ob mir die Hauptfigur, Damian Stauffer, wirklich sympathisch ist oder nicht, weiß ich auch am Schluss noch nicht so genau. Zum Glück gibt es Anna Herold und andere, die ich sofort ins Herz geschlossen habe.
[Beim Lesen überkommt mich wiederholt der Gedanke, wie Nicht-SchweizerInnen dieses Buch wohl wahrnehmen. Ob man dieses Buch im Speziellen, ob man Schweizer Krimis ganz allgemein, wirklich verstehen kann, wenn man die Art von uns Schweizerinnen und Schweizer nicht kennt? (Eine Frage, die ich mir natürlich auch stelle, wenn ich schwedische Romane lese oder englische, französische, schottische, isländische oder finnische …). Obwohl ich Grafs Dialoge sehr stark finde, frage ich mich gerade bei diesen, zumal ich sie mir beim Lesen bestens 1:1 auf schweizerdeutsch übersetzt vorstellen kann, wie und ob sich Dialoge wirklich authentisch von Dialekt in Hochdeutsch übersetzen lassen. Zumal ich oft regelrecht nach Worten ringe, um meine schweizerdeutschen Herzgedanken auf Hochdeutsch zu vermitteln. Haben es da deutsche KrimiautorInnen nicht viel einfacher, da sie auf Abkürzungen und regionale Dialekte ausweichen können, die deutsche LeserInnen verstehen? Würde Graf allerdings mit solchen Mitteln arbeiten, würden seine Dialoge unecht wirken. Ich frage mich also, ob Grafs Dialoge für deutsche LeserInnen ebenso nachvollziehbar sind wie für mich. Und ob die Arbeitsweise des Teams, die für mich so richtig basisdemokratisch, schweiztypisch und definitiv vorstellbar daherkommt, für Nicht-SchweizerInnen nicht allzu nett und gar unecht wirkt. Nein, solche Gedanken müsste ich mir definitiv nicht machen, auch wenn sie sich mir aufdrängen.]
Ja, ich mag das Buch. Es ist weder blutrünstig noch pervers, cozy wie Nicole vom CrimeTime-Blog es wohl nennen würde. Zwar hat die Geschichte ihre Längen, doch die schiebe ich kuzerhand der Darstellung zäher Ermittlungsarbeit in die Schuhe. Auch Roger Graf schiebt gerne. Er schiebt alles, was man ihm an möglicher Klischeehaftigkeit oder Hausfrauenpsychologie anhängen könnte, geschickt seinen ProtagonistInnen in die Schuhe. Well done!
Er skizziert zwar seine Figuren zum einen nur grob, äußerlich vor allem, doch sind sie schnell fühlbar, erlebbar, nachvollziehbar und haben alle so ihre liebevollen und nervigen Macken, die zur Gesamtpersönlichkeit passen. Stauffer zum Beispiel mag lieber Hotels als Zelte oder Campingwagen. Wie sich jemand freiwillig, wie das Mordopfer, im Wald aufhalten kann und oft sogar im Wald schlafen mag, kann er sich nicht vorstellen. Wenger, der Dienstälteste, ist dagegen oft und viel in der Natur unterwegs. Er ist der Spürhund des Teams und verfügt über eine Art siebten Sinn. Er ist auch offen für psychologische Zusammenhänge und phantasiert gerne verschiedene Tat-Szenarien vor sich hin. Da er aber Polizist ist, nicht Profiler oder Psychologe, darf er sich ziemlich viel erlauben. Graf legt ihm Worte in den Mund, die vermutlich eher trivialpsychologisch als seriös sind. Geschickt delegiert der Autor jedem seiner Figuren eine eigene Weltsicht. Und das recht frei von Klischees und (fast immer) politisch korrekt. Immer nur nett sind sie trotzdem nicht, keine Angst, vor allem sind sie emotional und leidenschaftlich und lassen sich berühren. Auch jene Figuren, die nur kurz auftauchen, wirken dreidimensional. Oft werden sie durch Dialoge innerhalb des Ermittlungsteams gezeichnet, wo wir oft auch deren Ängsten, Vorurteilen und Ambivalenzen begegnen. Einige Nebenfiguren entspringen falschen Spuren, die eine nachvollziehbare Ermittlungsrealität veranschaulichen. Und das Bild vervollständigen. Das Bild, wie wir SchweizerInnen ticken sozusagen.
Meine Lieblingspassagen sind jene Stellen, wo Stauffer über seinen Seitensprung nachdenkt (nein, niemand werfe mit Steinen) oder jene, wo sich die junge Anna Herold über das Leben von Prostituierten empört. So vieles kann sie nicht verstehen und wird – ihrer Impulsivität und Gegensätzlichkeit wegen – sehr bald meine Lieblingsfigur.
Stilistisch? Graf schreibt handwerklich gut, weder literarisch anspruchsvoll noch trivial. Und er kennt und liebt seine Figuren, entwickelt sie weiter, geht mit ihnen ein Stück Weg. Am Ende des Buches sind alle Fäden aufgelöst. Fast alle.* Aber vielleicht muss das ja so, denn es ist ja zu erwarten, dass die Serie weitergeht.
© by Denise Maurer
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[* Lässt Täuscher Anna nun in Ruhe und ist die gefundene Frau wirklich die richtige?]
Roger Graf, Der schöne Tod
Stauffers vierter Fall, Kriminalroman
Hardcover, 416 Seiten
2014 im Vidal Verlag Winterthur
Print: ISBN: 978-3-9523734-8-4
CHF 26.90/Euro 22.10
E-Book: ISBN E-Pub: 978-3-9523734-9-1
ISBN PDF: 978-3-9524368-4-4
CHF 21.90/Euro 18.15